Die Vergebenen – Die Unvergebenen

Welche Sünde trat vor der Sintflut am stärksten hervor? „Die Erde war verdorben, voller Blutvergießen“ (1. Mose 6,11.13). Was tat Gott, um diese sündige Menschheit zu retten? Hundertzwanzig Jahre lang machte er Noah zum Verkündiger des Wortes der Gerechtigkeit; er rief alle geradezu flehentlich zur Buße (vgl. 1. Mose 6,3; 2. Petrus 2,5). Doch jene freche Generation beharrte und beharrte in ihrer Bosheit und spottete gleichsam über Gottes Diener Noah. Am Ende war Gottes Geduld erschöpft. Seit jenem Tag sind unzählige Generationen über die Erde gegangen; am verdorbenen Wesen des Menschen hat sich nichts geändert.

Auf dem Höhepunkt der Geschichte wurde Gottes lebendiges Wort Mensch; er starb und stand auf und verschaffte durch seine Sühnung den Sündern Vergebung. Diejenigen, die Gottes unverdiente Gnade annahmen, wurden vergeben. Diejenigen aber, die dieses Geschenk von sich stießen und in ihrer Sünde verharrten, traf das ewige Gericht des gerechten Richters. Die Menschheit teilt sich in diese beiden Gruppen. Die in Noahs Generation begangenen Bosheiten gehen unablässig weiter. Die Sünde kocht und brodelt, und der Gott, dessen Wesen Heiligkeit ist, wird gleichsam ausgegrenzt. Gewiss, Religionen und religiöse Praktiken gibt es reichlich. Doch sie vermögen die Sünde nicht zu vergeben. Der Mensch entwickelt kaltblütig immer neue Formen der rohen Gewalt. Was war das für eine Grausamkeit, als man zusammen mit tausenden Menschen jene hohen Gebäude mit Flugzeugen, mit ihren Passagieren, dem Erdboden gleichmachte? Wessen Erfindung sind die lebenden Bomben, die mit im Körper verborgenen Sprengsätzen viele töten und verstümmeln? Wer gibt denen die Eingebung, die Unschuldige als Geiseln nehmen und Familien ins Elend stürzen? Allesamt steinerne Herzen, Unvergebene, unterwegs ins Verderben.

Wer sich nicht an die Stelle solch extremer Gewalttäter setzt und sich vielleicht für weniger sündig hält, soll sich innerlich fragen: Und ich – bin ich einer der Vergebenen? Bin ich mir dieser Sicherheit in meiner Seele bewusst, gelange ich vor dem heiligen Gott zur Ruhe und zum Frieden, kann ich mit voller Gewissheit bezeugen, dass ich von der Sünde gereinigt wurde, freue ich mich an seiner ewigen Gewissheit? Und ein sehr wichtiger Schritt: Bin ich frei von Hass und Rachsucht?

Der härteste Angriff jenes siebenköpfigen Drachen namens Sünde zeigte sich auf dem Hügel Golgatha. Dort nagelten sie Jesus ans Kreuz und vergossen sein Blut. Doch der rechte und gerechte Richter machte das heilige Blut des Christus zum Mittel der Vergebung, zum Gegengift. Er bestimmte seine erbarmungslose Tötung als Methode und grundlegende Gewähr der Auferstehung aus dem Tod. Der sterbende Christus erhob vom Kreuz dieses eindringliche Gebet: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lukas 23,34). Als Jesus am Kreuz sein Blut vergoß, erreichte die Herrschaft der Sünde ihren äußersten Grad. Sein Blut brachte die notwendige Sühnung für die Sünde und öffnete dem schlimmsten Sünder die Tür der Gnade. Dem, der daran glaubt … Das Opferschaf stirbt in Unwissenheit, ohne zu begreifen, was es ist. Der Retter Jesus aber starb alles wissend, freiwillig; sein Erlösertod war ihm Freude.

Der souveräne Gott hätte, wenn er gewollt hätte, die unvergebenen Sünder schlagen und – wie es ein bestimmter Glaube voraussetzt – seinen Messias in den Himmel aufnehmen können! Eine solche Tat hätte das Menschengeschlecht ohne Vergebung zurückgelassen. Der gerechte Gott vollendete am Kreuz eine grundlegendere Tat als solch ein Wunder: Er bildete die Gemeinschaft der Vergebenen. Der Gott, der spricht: „Ohne Blutvergießen gibt es keine Vergebung“ (3. Mose 17,11; Hebräer 9,22), machte das heilige Blut seines eingeborenen Sohnes Christus zur Sühnung für den Sünder. Die Frau wie den Mann, die an ihn glauben, reinigte und vergab er. Diese Vergebung entsprang nicht religiösen Bedingungen, sondern Gottes Gnade. Es war seine liebevolle Huld gegenüber dem Menschen. Das Maß dieses Geheimnisses ist tiefer als die Ozeane. Davor gerät das menschliche Gehirn ins Schwanken und fragt verwirrt: Wie kann Jesus sterben? Richtig! Der Tod ist das Gericht über den Sünder. Ist der sündlose Jesus auch gerichtet? „Denn Christus ist ein für alle Mal wegen der Sünden gestorben, der Gerechte für die Ungerechten, damit er uns zu Gott führe“ (1. Petrus 3,18).

Die Vergebung der Ungerechten durch das Blut des Gerechten pries der Prophet David, von Gott inspiriert, tausend Jahre vor dem Ereignis. Sein Flehen erhob sich so: „Mit dieser Tat bin ich in schwere Schuld gefallen. Ach HERR, tilge die Sünde deines Knechtes; denn ich habe große Torheit begangen“ (2. Samuel 24,10). Und gleich darauf sein Jubel: „Wohl dem, dessen Auflehnung vergeben, dessen Sünde zugedeckt ist! Wohl dem Menschen, dem der HERR die Schuld nicht anrechnet … Lobe den HERRN, meine Seele; und alles in meinem Innern seinen heiligen Namen! Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht all seine Wohltaten: der dir all deine Schuld vergibt, der alle deine Krankheiten zur Gesundheit wandelt, der dein Leben aus der Grube des Verderbens erlöst, der dich krönt mit Gnade und Erbarmen“ (Psalm 32,1–2; 103,1–4).

Die Vergebung des Sünders erfreut die Engel. Dass der Sünder hingegen die heilige Vergebung zurückweist, macht den Satan und die Dämonen froh. Der Vergebene schließt Hochmut, Prahlerei, das Erwarten von Gegenleistung für gute Werke und was sonst noch an Tugenden man sich einbilden mag, alles aus. Als einer, der Gottes Gericht verdient hatte und aus Gnade vergeben wurde, kniet er vor dem gekreuzigten Christus nieder, bringt dem einzigen Urheber seiner Vergebung seinen Dank dar und verbreitet die Freude, die gute Nachricht der Vergebung, an alle. Diese Gewissheit stärkt die Seele und setzt sich zum Ziel, dass auch andere zu derselben Freude gelangen. Wie sich das verlorene Schaf an den Hirten bindet, so bindet sich die vergebene Seele an den Guten Hirten und folgt seinen Schritten. Diese Schritte führen den Vergebenen ins Paradies.

Der Vergebene ist gänzlich frei. Denn er ist gereinigt von Groll, Rache und Hass. Für die, die er einst für Feinde hielt, betet er um Heil; er bittet den Gott der Gnade, dass ihnen vergeben werde. Das Lebensprinzip dieses Menschen wird so gezeichnet: „Seid einander gegenüber gütig. Vergebt einander voll Liebe, wie Gott euch in der Christus-Zugehörigkeit vergeben hat“ (Epheser 4,32). Manche vergeben schwer und sagen halbherzig: „Ich habe vergeben, aber vergessen kann ich nicht!“ Gott hingegen sagt zu denen, denen er vergeben hat: „Eurer Sünden werde ich nicht gedenken“ (Jesaja 43,25; Jeremia 31,34).

Ein junger Mann, der den Drogen verfallen war und von zu Hause weggelaufen ist, hat seinen Anteil an erschütternden Turbulenzen bekommen, ist überdrüssig und lebensmüde und teilt seinem Vater mit, dass er heimkehren wird. Eine Bahnlinie verläuft nahe am Haus. Auf der Reise erzählt er einem, den er kennengelernt hat, seine traurige Lebensgeschichte und sagt: „Ich habe meinem Vater einen Brief geschrieben. Wenn er mich annehmen will, möge er an den hohen Baum ein weißes Laken hängen. Ich bin so aufgeregt, dass ich nicht hinsehen kann. Würdest du einen Blick auf den Baum vor dem Haus werfen und mir dann Bescheid sagen?“ Der Mann erfüllt die Bitte des jungen Mannes in großer Spannung und überbringt die frohe Nachricht: „Am Baum hängt nicht nur eines, sondern viele Laken.“ Der dem niedrigen Leben den Kampf angesagt hat, stürzt sich in die offenen Arme des Vaters. Gottes Vergebung gründet sich auf das eine von ihm eingesetzte Rettungsmittel, auf das Sühnopfer Jesu Christi. Er sieht im Sünder weder Gutsein noch Religiosität noch Nützlichkeit. Niemand kann Gott auch nur eine einzige Gegenleistung bringen, um Vergebung zu erlangen. Die Vergebung des Vater-Gottes ist absolut unentgeltlich.

Zwei Läufer stehen sich auf dem Sportfeld als Rivalen gegenüber. Der eine ist dem anderen stets voraus. Statt die nicht zu biegende Hand des Gegenübers zu küssen, knirscht er mit den Zähnen gegen ihn. Der missgönnte Rivale erkrankt an Krebs und stirbt bald. Die Stadt, die seine Erfolge und Siege nicht vergessen kann, errichtet auf dem Platz dem jungen Mann ein schönes Denkmal. Der Sportler, der ihm zu Lebzeiten Feindschaft trug, gerät völlig außer sich; er kann nicht einmal den Toten vergeben. Eines Nachts schleicht er sich heimlich auf den Platz, legt an den Sockel des Denkmals einen Sprengsatz, der es zum Einsturz bringen könnte. Da er kein Fachmann ist, zerlegt die Explosion zwar das Denkmal in tausend Stücke, reißt aber zugleich auch den Sportler mit, der die Erfolge seines Gegners nicht ertragen konnte. Im Wort Gottes steht geschrieben: „Wer langsam zum Zorn ist, hat großen Verstand; wer aber hitzig ist, erhöht die Torheit … Einsicht macht den Menschen langmütig; Vergehen zu übersehen gereicht ihm zur Ehre“ (Sprüche 14,29; 19,11).

Einer namens Salman Rushdie, an den man sich mit Gedanken- und Kritikfreiheit wandte, hat ein weltweit bedeutendes Buch geschrieben. Manchen religiösen Fanatikern kochte das Blut. Diese Rachsüchtigen, die in ihrer Sündhaftigkeit unvergeben geblieben sind, konnten dem Autor nicht vergeben und verhinderten auch, dass ihm vergeben wurde. Gemäß den Gesetzen der Religion, für die sie sich als Anwälte aufspielten, verurteilten sie den Autor zum Tode. Der Mann lebt bis heute im Verborgenen. Die giftigen Wirkungen dessen, der nicht vergeben kann, grinsen in allen Bereichen: Rachsucht, Flucherei, Lieblosigkeit, Vergeltungssucht, Missachtung von Leben und Freiheit, Verletzung der Menschenrechte, Herumsitzen in den dunklen Gängen der Urzeiten, Streitlust sowohl mit dem Schöpfer als auch mit dem Geschöpften. Zugleich ist das Innere des Unvergebenen wie ein Schlachtfeld: Unruhe, Angst und Zweifel, sklavische Ergebenheit gegenüber dem schwarzen Schicksal, dem Los und dem Kismet. Die Brücke „Sirat“ – stockdunkle Ewigkeit. Unvergeben, unfähig zu vergeben … sehr bitter!

Bei dem, der vom Rachedurst verzehrt wird, haben Nerven, Drüsen, Gefühle und Blutkreislauf ihre normale Funktion eingebüßt. Sein Verstand ist auf ein einziges Begehren, sein Herz auf ein einziges Ziel fixiert. Dafür gibt es auch einen bekannten Namen: Vendetta. Den unvergebenen Feind zu überwältigen, ist ein sehr süßes Gefühl. Doch die Lust, die man aus der Jagd nach der Vergeltung für eine Sache zieht, ist die Otter, die sich im Innern des Rachsüchtigen einnistet und ihn zerfrisst; es ist ein Feuer, das aus der Hölle lodert. Unrecht nicht vergeben können, Groll nähren, auf Rache sinnen – das ist die Haltung des niedrigen natürlichen Wesens. Dass es Vergebung findet, sich in seinem inneren Leben wandelt, geistliche Heilung empfängt, ist Grundbedürfnis. Jesus Christus, der der Menschheit die Botschaft aus der Höhe brachte, betont: „Du musst von Neuem geboren werden!“

Im heiligen Wort, der Quelle der Weisheit, erschüttert der Antrieb, der den Sünder warnt und zur Vernunft ruft, den Einzelnen: „Wer seine Vergehen verbirgt, hat keinen Erfolg; wer sie aber lässt, findet Erbarmen“ (Sprüche 28,13). Überall gibt es Menschen, die innerlich Qualen erleiden. Was könnte ihr Leid sein? Sünden, die nicht bekannt und nicht zur Vergebung gebracht wurden. Sie werden von Gottes Gnade erwartet.

Nicht vergeben zu sein ist eine die Seele marternde Erschütterung. Das daraus entstehende Leid ist schlimmer als körperlicher Schmerz. Weder Religion, noch Sitte, noch Verdienst können es beseitigen. In der Tiefe dessen, der die aus Gottes Gnade stammende Vergebung nicht annimmt, vermehren sich die Würmer der Unruhe. Das Gewicht auf Seele und Geist, das daraus entsteht, dass man den Bruder nicht um Vergebung bitten kann und zugleich die Freude von Gottes Vergebung nicht kennt, ist eine schwere Last. Diese Dinge bilden die vorderste Kette der aufscheinenden Krisen. Eine Menge Sünden haben unauslöschliche, eingeätzte Flecken in der Innenwelt des Einzelnen hinterlassen. Dieser Mensch ist ein Kranker, der Heilung und Reinigung braucht. Solange das Bekenntnis der begangenen Sünden vor Gott und den Menschen, ihr demütiges Eingestehen, nicht geschieht, steht dieser Mensch unter ständiger Erschütterung.

Der himmlische Lehrer Jesus Christus lehrte seine Jünger ein wichtiges Gebet. Eine Bitte, die dem, der nicht weiß, wie er mit eigenen Worten beten soll, als Vorbild dienen kann. Jesus ruft den sündigen Menschen dazu auf, zum heiligen Gott so zu beten: „Vergib uns, wie auch wir denen vergeben, die an uns schuldig wurden!“ (Matthäus 6,12). Die Freude der Vergebung aus der Gnade Gottes zu empfangen, ist die freudigste und dauerhafteste Glückseligkeit. Hast du die Sünde des anderen von Herzen vergeben? Während in dir Gefühle von Groll und Feindschaft wohnen, sich anzumaßen, Gott um Vergebung zu bitten, heißt, Sünde zu Sünde zu fügen.

Wer um die Vergebung seiner Sünde nicht bittet und zugleich seinen Feind nicht vergeben kann, ist ein Gefangener, mit schweren Ketten gefesselt. Du magst die Sünde trinken wie Wasser und daran Genuss finden; doch die Wunden, die sie innen schlägt, sind niemals zu heilen. Der einzige Weg zur Rettung ist, auf den Menschen zuzulaufen, an dem die Sünde begangen wurde, um ihn um Vergebung zu bitten und die nötige Wiedergutmachung zu leisten. Und noch wichtiger: dem betrübten Gott mit Bekenntnis zu nahen und bei seiner Gnade Zuflucht zu suchen. Gott, der den Sünder in Liebe erwartet, ist bereit, ihn aufzunehmen – durch die sündenreinigende Sühnung des Retters Jesus Christus. Außerhalb dessen kann dem Sünder nicht vergeben, seine Sünde nicht ausgelöscht werden.

Einige aus einem religiösen Lager, die das gnadenhafte Angebot der Vergebung des Retters Jesus von sich wiesen, führten eine unglückliche Frau, die sie bei sexueller Unzucht ertappt hatten, vor Jesus. Gemäß ihrer Gesetzesordnung forderten sie, dass sie gesteinigt werde, und stellten so Jesus auf die Probe. Der Frau konnten sie keinerlei Vergebung gewähren. Jesus sprach kurz und treffend: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster den Stein auf sie!“ Beschämt wie eine Katze, die Milch verschüttet hat, schlichen sie sich einer nach dem andern davon – ohne zu vergeben, ohne Vergebung zu empfangen. Jesus sagte zu der Frau: „Ich vergebe dir; geh hin und sündige künftig nicht mehr.“ Und der Jesus, der dem Sünder die Freude der Vergebung gibt, spricht so: „Liebt eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen. Segnet, die euch verfluchen. Betet für die, die euch Böses tun“ (Lukas 6,27–28). Die Gnade Gottes, die das Herz anspricht, wirkt mit weit größerer Kraft als die Sünde: „Kommt doch, wir wollen miteinander rechten! Wenn eure Sünden wie Scharlach sind, sollen sie weiß werden wie Schnee; sind sie rot wie Karmesin, sollen sie wie Wolle werden“ (Jesaja 1,18).

Schafexperten sagen, das wirksamste „Waschmittel“ für Wolle sei der Schnee. Reibt man den Schnee in das Fell des Tieres, wird es schneeweiß. Reinigungsvermögen – ihm eigen. Gott, der die Lösung eines jeden Problems weit besser kennt als wir, hat in seiner Gegenwart das Blut Jesu Christi als Sühnung bereitgestellt, um den Schuldigen von der Sünde zu reinigen und zu vergeben. Sein Ziel ist, dich aus der Herrschaft der Sünde, den von ihr verursachten Qualen und Niederlagen herauszuführen und dich dann zu einem Menschen zu machen, der vergeben kann. „Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns … Das Blut seines Sohnes Jesus Christus reinigt uns von jeder Sünde“ (1. Johannes 1,8; 7b).

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Munir Hanna ()