Die Jahre des Alters – Blätter des Herbstes
Als der Puls des alternden Jahrhunderts beinahe zum Stillstand kam, erklärte die UNO das letzte Jahr zum „Jahr der Alten“. Eine passende Wahl! Wie das vergangene Jahrhundert hat auch das Leben älterer Menschen unzählige Erinnerungen hinterlassen. Der Kopf beschäftigt sich mit ihnen, ringt bisweilen mit ihnen. Viele sind sinnlos, freudlos, fad… Neben solchen, die den Stolz streicheln, gibt es auch jene, die das Herz schmerzen lassen, beschämen und den Wunsch nach einem „Ach, wäre es doch anders gewesen!“ wecken – Berge von angesammelten Erfahrungen. Die Bilanz am Ende des Weges!
Das Jahrhundert, das Schauplatz des Ersten und Zweiten Weltkriegs und vieler anderer Wutausbrüche war, ist abgetreten – in seinem Inneren Ereignisse, die die Herzen schmerzen. Eine Kette von Missständen, so hoch wie Berge, so tief wie Ozeane, bleibt im Gedächtnis. Zugleich ein Zeitalter atemberaubender Erfindungen und Erfolge! Auch im Leben alter Menschen fehlt es nicht an Erfolgen, doch daneben grinsen Störungen und Erschütterungen. Kindheit und Jugend gleichen einer Videokamera: Nichts bleibt unaufgezeichnet, nur dass vieles Kopfzerbrechen bereitet. Wer Videos liebt, kann misslungene Aufnahmen löschen, vergessen. Die Aufnahmen der Lebenskamera aber lassen sich niemals tilgen.
Hiob, der durch bittere Stürme geht, ruft seinem Schöpfer zu: „Du schreibst mir bittere Ereignisse an, lässt die Sünden meiner Jugend auf mich zurückfallen“ (Hiob 13,26). Auch David, dessen Leben von mancher Unordnung gezeichnet ist, fleht aufrichtig: „Der Sünden meiner Jugend und meiner Auflehnung gedenke nicht, HERR! Gedenke meiner nach deiner Gnade, um deiner Güte willen!“ (Psalm 25,7). So ist es: Wie beim vergangenen Jahrhundert wird auch der alte Mensch von vielen Erinnerungen an Schuld und Böses gequält – und erkennt, dass es außerhalb der Gnade Gottes keine Kraft gibt, die dies ändern könnte.
Das Ermutigende: Wie der Hilflose in der Wüste eine Oase findet, so kann der vom steilen Lebenspfad Ermüdete der Liebe, Gnade und reinigenden Kraft begegnen, die die Finsternis in Licht verwandelt. Dornenfelder werden zu Rosengärten. Das Jahrhundert liegt hinter uns – keine Macht, keine Fähigkeit kann ein einziges der Übel jener Zeit rückgängig machen oder seine Wirkung brechen. Geschehen ist geschehen, die Folge bindet alle. Doch unser Schöpfer, der in der Person des menschgewordenen Christus unser Retter wurde, lässt keine Verdorbenheit zurück, die er nicht erneuern könnte: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2. Korinther 5,17).
Das Alter ist die Zeit, in der die Ansammlung von Schmerzen und Erschütterungen die Seele aufwühlt. An vorderster Stelle steht die Unruhe über grobe, hässliche, selbstsüchtige Taten der Jugend. Der Schöpfer, der dem Jungen wie dem Alten in Liebe begegnet, möchte diese durch seine einzigartige Gnade und Reinigungsvollmacht vergeben und auslöschen. Dass der alte Mensch aus dieser Grundnot befreit und mit dem Vater versöhnt wird, durch das reinigende Blut des Retters Christus gereinigt und seiner ewigen Sicherheit gewiss wird, bedeutet, Gottes Willen ein beherztes „Ja“ zu geben. Wenn das Grundbedürfnis in Bezug auf die Ewigkeit geklärt ist, erhellt sich der Sinn des Lebens, und Gottes Licht und Zuversicht berühren auch die übrigen Probleme.
Gewiss: Die Erschütterungen des Alters enden nicht mit diesem einen Entschluss. Doch die alte Frau, der alte Mann, der die Freude der Vergebung und den Reichtum des ewigen Lebens im Herzen trägt, lernt, wie er mit den Nöten umgehen kann. Er darf Gott „Vater“ nennen, mit Einsicht beten und seine Schwierigkeiten als Stufen sehen, die ins Licht führen. Die Kette der Unannehmlichkeiten im Alter ist lang: Geldmangel, Kraftlosigkeit, Krankheit, Einsamkeit, Vergesslichkeit, das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden usw. Das lässt sich nicht leicht tragen. Die verschiedenen Nöte alter Menschen zu verstehen, ist eine Verpflichtung für Familie, Gesellschaft und junge Generation. „Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber“, sagt das Wort Gottes (Römer 14,7).
So nähert man sich dem Thema Alter. In der Gesellschaft sind wir Einzelne – und doch ein Ganzes. Verantwortung beginnt als Liebesschuld. „Gott ist Liebe“ (1. Johannes 4,8.16). Wer Gottes besondere Zuwendung annimmt, sieht den Mitmenschen – und besonders den alten Menschen – mit Liebe und setzt sie praktisch um. Jeder sollte sich fragen: Besuche ich je ein Altersheim? Bringe ich den Menschen, die dort ihre Tage verbringen, ein kleines Geschenk, etwas Süßes, ein aufbauendes Buch? Helfe ich einem Verwahrlosten ein wenig zurecht? Das sind einfache, aber viel zu selten geübte Dienste.
Bosheit, Unrecht, Ungerechtigkeit sind Zeichen von Liebesmangel. Eine Welt aus selbstsüchtigen Taten, in der das Chaos der Ordnung ins Gesicht spuckt. Göttliche Liebe kann die Fluten zügeln. Jesus Christus, der für den sündigen Menschen starb, sagt: „Geben ist seliger als Nehmen“ (Apostelgeschichte 20,35). Die Zahl derer, deren Alter ins Wanken geraten ist, lässt die Herzen schmerzen; die Gleichgültigkeit der anderen beschämt die Gestürzten. Lass dich mit einer neuen Liebe kleiden, wende dich – solange Zeit ist – deinem alten Bruder, deiner alten Schwester zu. Setz dich zu ihnen und bedenkt gemeinsam: „Die Gerechten werden das Land erben und für immer darin wohnen“ (Psalm 37,9). Gott lenkt deine Aufmerksamkeit auf diese Wahrheit.
Jede Jahreszeit hat ihre eigene Schönheit, doch der Herbst ist besonders. Die Bäume tragen reife Frucht, die Sonne streichelt wohlig, die Natur rüstet sich lebhaft für den nahenden Winter. Am eindrucksvollsten: die Blätter in überwältigenden Farben. Unter den Anmutigkeiten der Natur steht dieses Schauspiel ganz vorn. Fast als wollten sie den Frühling herausfordern, sagen die welken Blätter: Meine Anziehungskraft ist eine andere!
Unter dem azurblauen Himmel, vom strahlenden Sonnenlicht gewaschen, streuen diese Blätter funkelnde Farben – Gelb und Rot, Purpur und Gold, Schattierungen ohne Zahl – und erheben Auge und Seele zur höchsten Freude. Wer diese unvergleichliche Schönheit zu schätzen weiß, möchte sich kaum davon lösen. Denn sie ist kurz. Bald schon weicht alles dem winterlichen Grau – dem Sterben der Umgebung. Ist das nicht erstaunlich? Während die Natur stirbt, verschenkt sie die lieblichsten Farben – als wolle sie sagen: Das Schönste habe ich mir bis zuletzt aufgehoben! Die Botanik nennt den Stoff, der den Blättern diese Schönheit verleiht, „Putreszin“, ein Hormon. Sein Name ist bemerkenswert: „das, was verrottet, verdirbt“. Welch schöne Lehre: Während sie vergeht, schenkt die Natur ihre prachtvollste, aufhellendste Schönheit. Und der alte Mensch?
In der Bibel begegnet uns die Frage: „Was ist euer Leben? Ein Dunst seid ihr, der eine kleine Zeit sichtbar ist und dann verschwindet“ (Jakobus 4,14). Und weiter: „Der Mensch geht einher wie ein Schatten; ja, um Nichtiges lärmt er. Er sammelt und weiß nicht, wer es einstecken wird… Ich bin ein Fremdling bei dir, ein Beisasse wie alle meine Väter“ (Psalm 39,6.12). Wir werden geboren, lassen Jahr um Jahr hinter uns und gelangen auf die Stufe des Alters. Bald ist auch diese Phase zu Ende, der Mensch legt sich ins Grab. In dieser Wende stellt sich die natürliche Frage neu: Wie sieht dein Herbst des Lebens aus? Ein mürrisches, launisches, freudloses, hoffnungsloses Alter öffnet kein einziges Herz – im Gegenteil, es drückt und vertreibt andere. Eine der erstrebten Leistungen des Lebens ist, das Alter so zu vollenden, dass es Süße und Trost ausstrahlt.
Der Sportler springt beim Knall der Pistole ins Rennen. Der Anfang ist aufregend, die Mühe dauert bis zum Ziel; berührt der Sieger das Band, ist die Bewunderung groß. Der Abend des Lebens gelingt nicht immer so glänzend. Körperliche Schmerzen, bittere Erinnerungen, wachsende Sorgen… Unter solchem Druck Heiterkeit, Standhaftigkeit und inneren Frieden zu zeigen, ist nicht leicht. Wird diese Haltung aber nicht gesucht und angenommen, wird das Alter zur Last – für einen selbst und die Umgebung – und die Unruhe wächst von Tag zu Tag.
Die Natur vermag, während sie sich zersetzt, in Freude zu jubeln – und wie! Das „verrottende“ Hormon „Putreszin“ wird in einen schöpferischen Dienst gestellt; im Sterben zeigt sie uns die eindrucksvollste Schönheit, als stimmte sie ihr lieblichstes Lied an. Saulus von Tarsus (Paulus) war, solange er der Gesetzesreligion diente, hart, jähzornig, unbarmherzig, ohne innere Ruhe und ohne Frische im Wort. Ganz darauf fixiert, die Forderungen der Satzungen zu erfüllen. Eines Tages begegnete er dem erhabenen Retter Jesus Christus, sagte der Sünde den Kampf an, kehrte um – und ein Leben, das Bitterkeit verströmte, wurde zur Quelle der Süße. Er vertauschte Gesetz mit Gnade, fand das Geheimnis eines sinnvollen, zielgerichteten Lebens. Bevor er auf Befehl des römischen Kaisers hingerichtet wurde, sang er dieses Lied: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt. Nun liegt für mich die Krone der Gerechtigkeit bereit; der Herr, der gerechte Richter, wird sie mir an jenem Tag geben – nicht nur mir, sondern allen, die sein Erscheinen lieb gewonnen haben“ (2. Timotheus 4,7–8).
Wie bei Paulus ist es weise, noch vor der Schwelle des Alters die Gnade des Retters Jesus Christus zu suchen und ihren Reichtum zu erfahren. Die Mahnung des Wortes Gottes sollte jeden jederzeit erreichen: „Das Andenken des Gerechten wird zum Segen; aber der Name der Gottlosen verwest“ (Sprüche 10,7). „Der Gerechte wird niemals wanken; des ewigen Gedenkens wird er teilhaftig“ (Psalm 112,6). Gott verheißt dem, der das Wichtigste ergreift – die Rettung der Seele – lebendige Zusagen: „Denn ich, der HERR, verändere mich nicht; darum seid ihr nicht zugrunde gegangen“ (Maleachi 3,6). Der Prophet Jesaja ist uns ein Beispiel für den Menschen, der über Raum und Zeit hinaus zu dem Retter gelangt, der aus den Toten auferstand und das Grab besiegte, und der im Reichtum der Ewigkeit das Lied der Zuversicht anstimmt – der im Herbst des Lebens Seligkeit erklingen lässt: „Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und junge Männer straucheln und fallen; aber die auf den HERRN harren, gewinnen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, laufen und nicht matt werden, wandeln und nicht müde werden“ (Jesaja 40,29–31).