Barmherzigkeit – Gnade

Ein armer Mitmensch, an beiden Beinen behindert, sitzt am Tor, wo viele ein und aus gehen, und ruft „Erbarmen, Erbarmen!“, in der Hoffnung auf Hilfe von denen, die zu ihrem religiösen Brauch kommen. Manche werfen ihm ein wenig Geld hin, die meisten gehen jedoch mit dem Lippenwunsch „Möge Gnade widerfahren!“ vorbei. So drückt man das Gewissen weg und entzieht sich der eigenen Pflicht. Betrachtet man das genauer, zeigt sich, wie traurig sowohl die Bitte als auch die übliche Antwort sind.

Es gibt Berufsbettler – und es gibt Arbeitslose, Hungernde, wahrhaft Bedürftige. Erstere leben davon, ohne Arbeit vom Mitleid der Vorübergehenden möglichst viel Geld zu ziehen. Die anderen bitten beschämt und suchen einen, der ihren Schmerz teilt. Unter denen, die durch das große Tor eintreten, geben manche ein paar Münzen „fürs Seelenheil“; manche benutzen den Wunsch „Es sei Gnade“ als religiöse Floskel. Dieser großzügig gebrauchte Spruch hat mit einem großzügigen Herzen meist nichts zu tun. Wie erklärt man solchen Menschen, was Gnade ist? Womit beschreibt man sie?

„Merhamet“ (Barmherzigkeit) und „inayet“ (Gnade). Ersteres heißt mitleiden; letzteres meint unverdientes Wohlwollen, Gunst. Beide Begriffe sind weit. Barmherzigkeit: sich in die Not des anderen hineinfühlen. Gnade: ein kostenloses, wirksames Gut eines Höheren. Sowohl der Bittsteller an der Straße als auch der, der ständig „Gnade widerfahre!“ sagt, brauchen echte Barmherzigkeit und Gnade – beides kann der Mensch aus sich nicht schaffen. Arm wie reich, einfach wie wohlhabend: Ruft nach Erbarmen und nehmt die von oben kommende Gnade im Glauben an – flüchtet euch zu ihr.

Der, der Gnade nötig hat, ist nicht nur der, der die Hand für ein paar Münzen aufhält – du bist es, wir alle sind es. Wer leichtfertig „Gnade, Gnade!“ sagt und geizig bleibt, wird, wenn er die wahre Natur der Gnade versteht, sie im Glauben ergreifen und Gott dankbar anbeten. Männer und Frauen aus allen Völkern, Schichten und Generationen sollen zum Retter laufen, der Quelle der Barmherzigkeit und Schatzkammer der Gnade, und von ihm Frieden erbitten. Denn vor dem heiligen und gerechten Gott sind wir arm, nackt und hilflos. Sünden, die wir für gering halten – oder deren Menge wir beklagen –, bringen vor dem gerechten Gott strenges Gericht und ewigen Zorn. Unterscheidungslos. Vor Gott, dessen Gnade strömt wie Flüsse, zählen Armut oder Reichtum, religiöses Defizit, wenig „Verdienst“ oder Atheismus nicht. Wichtiger ist etwas anderes: das „Innere Elend“, das in uns schreit. Was ist das? Deine Seele stöhnt: Du versuchst Pflichten zu erfüllen, tust Wohltaten, wirst gelobt – und doch schreit dein Innerstes „Erbarmen!“ Du trägst die Last deiner Schuld; zur Freude des vollen Freispruchs und der Bekleidung mit Gerechtigkeit gelangst du auf keinem Weg. Selbst ein angenehmes, angesehenes Leben stillt nicht die Leere, die nach Gnade von oben verlangt.

Wer Hunger, Nacktheit oder Obdachlosigkeit kennt, ruft unwillkürlich „Erbarmen!“. Wer aber nicht erkennt, wie arm seine Seele an Frieden, Ruhe und Sicherheit ist, bringt es kaum über sich, ehrlich „Erbarmen!“ zu rufen. Rang, Beruf, Einkommen, Bildung, Ansehen, sogar Religiosität hindern ihn daran. Warum? Weil scheinbar „alles läuft“. Doch ohne die demütige Bitte um Erbarmen wirst du die Wohltat der himmlischen Gnade nicht erfahren. Du verbringst Tage dürstend und bleibst vor dem freigiebigen Gott immer bedürftig – kreisend im Leerlauf.

Die Kette von Sünden gegen Gott und den Mitmenschen hat dich aus gesunden Beziehungen herausgerissen – wie jemand, der in der Wüste festsitzt. Sichtbare materielle oder religiöse Fülle stillt den tiefen Wunsch deiner Seele nicht. Dein Inneres weiß es und stöhnt täglich: „Erbarmen, Erbarmen!“ Ohne diesen Ruf von Herzen kommt kein Regen der Gnade, die dürstende Seele wird nicht getränkt. Gottes Gnade – ausgereicht durch den Retter Jesus Christus – gilt allen. Der arme Mann am Tor bekommt vom Gleichgültigen nur ein trockenes „Es sei Gnade“. Der zerknirschte Sünder hingegen, der mit Demut, Buße, dem Wunsch nach Reinigung und einem gläubigen Herzen an Gottes Rettungstür klopft, empfängt überreiche Gnade. Niemand ist von dieser Seligkeit ausgeschlossen. Du darfst dich mit König David freuen, dem Gott die Schuld vergeben hat: „Wohl dem, dessen Übertretung vergeben, dessen Sünde zugedeckt ist! Wohl dem Menschen, dem der HERR die Schuld nicht zurechnet und in dessen Geist kein Betrug ist!“ (Ps 32,1–2).

„Die Opfer Gottes sind ein zerbrochener Geist; ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, o Gott, nicht verachten… Schaffe mir, Gott, ein reines Herz, und erneuere in mir einen festen Geist… Gib mir wieder die Freude deines Heils und stütze mich mit einem willigen Geist… Lobe den HERRN, meine Seele, und alles, was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir all deine Schuld vergibt und alle deine Krankheiten heilt… So fern der Osten ist vom Westen, hat er unsere Übertretungen von uns entfernt“ (Ps 51,17.10.12; 103,1–3.12).

Das ist die Bitte und der Dank dessen, der Gott gefällt. Reinigung geschieht allein aus Gnade – vollendet durch das Opferblut Christi. So haben die Propheten die Vergebung erkannt und verkündet. Dem gerechten Richter schuldest du unermesslich viel: Wo ist die angemessene Antwort auf das Übertreten seiner Gebote? Du hast eine Wahl. Der liebende Gott kommt dir nahe: „Mein Sohn Christus ist dein Sühneopfer; er hat deine ganze Schuld bezahlt. Nimmst du mein Geschenk im Glauben an?“ Vielleicht antwortest du wie viele: „Nicht nötig! Ich bezahle meine Schuld mit religiösen Pflichten und guten Werken.“ Freund, hör auf, mit der Nadel einen Brunnen zu graben – nimm Gottes Gnade an! „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Quellen des Heils“ (Jes 12,3). „Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme“ (Eph 2,8–9).

Früher nannte man den gastfreundlichen Menschen „sein Tor steht offen“, den Verschlossenen „seine Tür ist eine Mauer“. Ohne Tür geht es nicht. Türen verbinden Kulturen. Sie kennen keine Nationen– oder Standesgrenzen. Es gibt große und kleine Türen; Palasttore, goldverzierte Tore, starke Burgtore, verschlossene Ladentüren, Haustüren mit Riegeln, arme Hütten– und Nachbartüren, Schafstalltüren usw.

Und es gibt Türen im übertragenen Sinn. Jesus sagte: „Der Hirt ruft seine Schafe beim Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle seine eigenen hinausgetrieben hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern vor ihm fliehen; denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht… Ich bin die Tür der Schafe“ (Joh 10,3–5.7). Jesus vergleicht Gottes Gegenwart mit einem herrlichen, heiligen Haus. Zutritt gibt es nur durch eine Tür – und er erklärt ohne Zweifel: Er ist diese Tür zu Gott. Reinigung von Sünden, Versöhnung mit Gott, das Paradies – all das nur durch diese Tür.

Aus der Sanftheit des Schafs sind grobe Redensarten geworden: „Schafsmensch!“, „Schau, wie ein Schaf!“ Dabei wird das Schaf mit herabgesetzt, wenn man den im Bilde Gottes geschaffenen Menschen abwertet. Wer sündigt, gleicht eher Pfau, Fuchs, Hyäne, Schlange, Skorpion, Fliege. Leider entspricht viel Menschenverhalten dem. Wer seine Schuld nicht erkennt, versucht, durch viele Türen ins Heiligtum Gottes zu kommen – vergeblich. Der Sünder kann vor Gott nicht bestehen.

Der sündenlose Christus empfiehlt uns, wie Schafe/Lämmer zu sein: ohne Bosheit, ohne Hass, ohne List. Ist das nicht der Kern der Ethik? Der Mensch ist oft wütend, reißerisch, verschlingend, betrügerisch, ausbeuterisch, eitel. All das muss aus dem Herzen weichen. Gott hat seinen Christus vom Himmel gesandt, um das zu wirken. „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!“ (Joh 1,29.36). Wer durch sein Blut gereinigt wird und sich an ihn bindet, dem öffnet er die Tür zur Ewigkeit – das nennt die Schrift „Wiedergeburt“. Gott hat es lange zuvor verheißen:

„Ich will euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres legen; ich will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Ich will meinen Geist in euer Inneres legen und euch veranlassen, in meinen Ordnungen zu wandeln und meine Rechtsbestimmungen zu halten“ (Hes 36,26–27; 11,19). Äußere Gesetze lassen sich leicht brechen; aber die vom Geist Gottes ins Innere geschriebenen Gebote bewahren, warnen und stärken.

Ein Schaf lebt nicht allein. Es braucht Pflege, Führung, Schutz. Sein Leben unter der Leitung des Hirten ist ein Bild dafür, wie Menschen in Liebe und Frieden leben sollen – etwas, das wir aus uns nicht schaffen, weil wir alle sündig sind. Gott aber will uns aus dem Dilemma ziehen – er hat eine herrliche Tür geöffnet und ruft dich, durch sie hindurch Leben zu finden. Neben „Ich bin die Tür“ sagt Jesus: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh 14,6). Ohne ihn gibt es keinen Weg, keine Erkenntnis, kein Leben. Wahrheit ist ewig; Lüge ist Menschenwerk. „Christus ist uns von Gott zur Weisheit gemacht“ (1 Kor 1,30).

Jesus sagt, Diebe kämen „anderswo“ herein: durch Fenster, Schornstein, unterirdische Öffnungen. Wer aber durch die von Gott bestimmte Tür eingeht, tritt zu Gott, wird sein Gast und findet die beste Weide. In dem Haus, in das der Retter die Glaubenden führt, wohnen Liebe, Sicherheit, Frieden – Angst, Unrecht und Fatalismus bleiben draußen.

Es gibt auch „verbotene Türen“ – nicht jeder darf überall hinein. Aber durch die herrliche Tür, die der Schöpfer der ganzen Menschheit geöffnet hat, kann jeder eintreten: reich oder arm, Mann oder Frau. Keiner wird abgewiesen. In dieser krisenhaften Zeit ist der selig, der diese Tür nutzt. Drinnen wartet Gottes Festtafel – herrlicher als alle Tafeln der Welt. Wer seine Ausreden beiseitelegt und zum Fest kommt, lebt schon jetzt von der Freude der Ewigkeit.

Wackelige, unbevollmächtigte Theorien weisen niemandem den Weg zu Gott. Nur wer durch seine Reinigungstür geht – in Buße, Demut, Glauben an Christus – gelangt ins Heiligtum. Hochmut passt nicht durch. Die Versöhnungstür mit Gott verlangt ein weites Herz – und ist zugleich die Tür zur Versöhnung mit dem Mitmenschen. Zerbrochene Beziehungen sind doch eines unserer Grundprobleme. Die eine Tür, die aus der Finsternis der Sünde ins Licht der Heiligkeit führt, lässt die Probleme zurück. Darum: „Lasst uns eingehen durch den neuen und lebendigen Weg, den er uns eröffnet hat durch den Vorhang, das ist durch sein Fleisch“ (Hebr 10,20). Sein Leib wurde verwundet, sein Blut vergossen; er starb, wurde begraben und ist am dritten Tag herrlich auferstanden. Ihm zu glauben, der seinen Leib für dich hingab, ist die höchste Entscheidung für Zeit und Ewigkeit.

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Munir Hanna ()